Stroh im Land, Geld in der Hand

Aufbau und Entwicklung des Museums der Strohverarbeitung Twistringen

Stroh gilt als weitgehend wertloses Abfallprodukt der Landwirtschaft. Oft verwenden wir den Begriff in einem negativen Zusammenhang und sprechen etwa von “strohdumm” oder “Strohkopf”. In der Stadt Twistringen hat das Wort “Stroh” jedoch einen ganz anderen Klang: Es steht für die fast 300jährige Geschichte der erfolgreichen “Vermarktung” eines gar nicht so wertlosen Rohstoffes. Ihrer Darstellung widmet sich seit 1996 das dortige “Museum der Strohverarbeitung”. Es präsentiert die historische und zeitgenössische Entwicklung der vor Ort ansässigen strohverarbeitenden Industrie mit ihren wirtschaftlichen, sozialen und naturräumlichen Voraussetzungen und Auswirkungen.

Strohverarbeitung in Twistringen

Im frühen 18. Jahrhundert begannen die Twistringer, aus dem reichlich vorhandenen Roggenstroh Geflechte und Hüte zu fertigen. Die Voraussetzungen waren hier besonders gut, denn in dieser Gegend wuchs der Roggen aufgrund des Lössbodens sehr hoch. Die Wachstumsknoten der Halme lagen oft bis zu 45 cm auseinander. Die langen Zwischenstücke ließen sich gut zu Geflechten verarbeiten. Twistringen entwickelte sich sehr bald zum wichtigsten Produktionsstandort in Norddeutschland. Um 1830 waren hier 800 bis 1.000 Menschen mit der Herstellung von Strohgeflechten für die Hüte beschäftigt - die meisten von ihnen in Heimarbeit.

Als jedoch im späteren 19. Jahrhundert die Konkurrenz durch billige Strohgeflechte aus Asien zu groß wurde, entwickelten die Twistringer weitere Produkte aus Stroh. Sie begannen mit der Produktion von Flaschenhülsen als Verpackungsmaterial für Glas. Schon 1895 schätzte man die jährliche Gesamtproduktion auf 120 Millionen Flaschenhülsen, für die 200.000 Zentner Roggenstroh benötigt wurden. Im 20. Jahrhundert waren die Twistringer Hersteller von Flaschenhülsen in Deutschland führend. Auch mit einem weiteren neuen Produkt, dem Trinkhalm aus Stroh, hatten die Twistringer Firmen schnell Erfolg. Allein im Jahr 1935 fertigten sie ca. 200 Millionen Trinkhalme.

Erst in den 1960er Jahren setzte der Niedergang der strohverarbeitenden Industrie ein. Zum einen wurde der Rohstoff Stroh durch neue Materialien - vor allem Kunststoff - ersetzt, zum anderen wurde durch den zunehmenden Einsatz von Mähdreschern das unversehrte Roggenstroh knapp, das für die Strohprodukte erforderlich war, und schließlich wies der neu gezüchtete Hybridroggen längst nicht mehr die erforderliche Halmlänge auf.

Dennoch kam die Strohverarbeitung nicht ganz zum Erliegen. Bis heute verarbeiten noch einige Firmen in Twistringen Kurzstroh und andere Naturfasern z.B. in Ummäntelungen von Dränagerohren und zu Isolier- und Erosionsschutzmatten. Stroh zählt heute zu den nachwachsenden Rohstoffen, für die in den letzten Jahren immer neue Verwendungsmöglichkeiten entwickelt wurden.

Auf- und Ausbau des Museums

Seit den 1980er Jahren befasste sich der Heimat- und Bürgerverein Twistringen mit der Absicht, eine Heimatstube zum Thema “Heimarbeit in der Strohverarbeitung” einzurichten. Die 1990 im Kreismuseum Syke gezeigte Ausstellung “Unser Stroh in alle Welt” verdeutlichte jedoch den Umfang und die Bedeutung dieses Thema für Twistringen. Daher entschloss sich der Verein, ein Museum einzurichten, das die Strohverarbeitung in ihrer Gesamtheit von den Anfängen bis in die Gegenwart vorstellen sollte. Im Oktober 1992 wurde der “Förderverein Museum der Strohverarbeitung Twistringen e.V.” als Träger des zukünftigen Museums gegründet. Schon kurze Zeit später konnte der Verein eine Scheune erwerben, die bis dahin zur Lagerung und Verarbeitung von Stroh gedient hatte. Mit Hilfe von Fördermitteln, Spenden und sehr viel ehrenamtlicher Arbeit der Vereinsmit-glieder begann 1993 der Ausbau des Gebäudes in vier Bauabschnitten. Der rustikale Charakter des Gebäudes wurde dabei in der Auswahl der Materialien und in der Farbgebung berücksichtigt. Zugleich entstand jedoch ein funktionales modernes Gebäude. Parallel dazu konnte der Verein rasch einen Bestand an historischen Maschinen, Geräten, Arbeitszubehör und anderen Zeugnissen aus den ehemaligen strohverarbeitenden Betrieben des Ortes zusammentragen.

Das Museum umfasst heute rund 850 qm Gesamtfläche, zu der eine zentrale “Museumsdiele” mit Ausstellungsnischen, zwei weitere Ausstellungsräume, ein Scheunentrakt sowie Werkstatt- und Lagerräume, Büro, Küche, Sanitärräume, Foyer und im Obergeschoss zwei Sonderausstellungsräume gehören. Der letzte Bauabschnitt - der Ausbau des Obergeschosses - wurde im Oktober 2003 fertig gestellt. Doch schon 1996 waren die ersten Räume im Erdge-schoss soweit gediehen, dass eine provisorische Einrichtung der Dauerausstellung und eine Teileröffnung des Museums erfolgen konnten. Bereits zwei Jahre später waren alle Ausstellungsräume für das Publikum zugänglich. Seit 1998 stand die Verfasserin dem Museum bei der Konzeption und Gestaltung der endgültigen Dauerausstellung zur Seite, die 2001 bis 2003 in drei Teilabschnitten eröffnet wurde.

Ausstellungskonzept und Umsetzung

Die Konzeption der Dauerausstellung verfolgte zwei Ziele: Zunächst sollte die Ausstellung durch Texttafeln und Objektbeschriftungen für (Einzel-) Besucher inhaltlich zugänglich gemacht werden. Denn bis dahin wurden alle Besucher des Museums von ehrenamtlich tätigen Mitgliedern des Fördervereins durch das Museum geführt. Auch wenn durch die persönliche Vermittlung viel Wissen und Erfahrung auf eine sehr individuelle und unmittelbare Weise weitergegeben werden konnte, war doch absehbar, dass die Ehrenamtlichen bei der ständig wachsenden Zahl der Besucher diesen Einsatz nicht auf Dauer leisten konnten.
Darüber hinaus sollte die Ausstellung ein stringentes, inhaltlich und didaktisch fundiertes Konzept bekommen, um dem Museum in der niedersächsischen Museumslandschaft ein eigenständiges Profil zu geben. Das Museum sollte daher nicht nur die historische Entwicklung darstellen, sondern am Beispiel des Strohs zugleich die Bedeutung nachwachsender Rohstoffe und deren zukünftig denkbare Nutzungen verdeutlichen. Das Museum versteht sich also auch als ein Vermittler zwischen Ideen der Vergangenheit und Projekten der Zukunft zur Förderung einer “Nachhaltigen Entwicklung”.

Ausstellungsnischen

Der Ausstellungsrundgang beginnt mit den vier großen Ausstellungsnischen in der Museumsdiele. Sie stimmen den Besucher auf das Thema “Stroh” ein und vermitteln die Hintergründe für die Entwicklung der Strohindustrie in Twistringen - die naturräumlichen Bedingungen, die besonderen Eigenschaften dieses Rohstoffes und die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen vor Ort. Da es für diese Themen nur wenige dreidimensionale historische Objekte gab, wurden für Texte, Fotos und Karten verschiedene Präsentationsformen gewählt und durch Hand-on-Angebote ergänzt: So gelangen die Besucher durch umklappen, aufziehen, anfassen, fühlen, ausprobieren und vergleichen an die Informationen.

Vor der Fertigstellung des Sonderausstellungsraumes war es notwendig, die Nischen zwischenzeitlich immer wieder auszuräumen, um Platz für andere Ausstellung zu schaffen. Damit dies relativ einfach möglich war, besteht die Einrichtung der Nischen aus variabel einsetzbaren Holzelementen mit geraden oder schrägen Oberflächen, die sich durch Plexiglaseinsätze in Vitrinen bzw. Pultvitrinen umwandeln lassen.

Historische Strohverarbeitung

Die Darstellung der historischen Strohbe- und -verarbeitung beginnt in dem als Scheune belassenen Teil des Gebäudes. Entsprechend dem Charakter des Raumes werden hier spezielle Landmaschinen gezeigt, die bei der Mahd und beim Dreschen des Roggens zum Einsatz kamen. Denn beides musste sehr behutsam erfolgen, damit das Stroh unversehrt blieb. Im Mittelpunkt steht als Blickfang die lebensgroße Figur eines Mannes, der das Stroh zur weiteren Verarbeitung vorbereitet.

An den Scheunentrakt schließt sich die Präsentation der Maschinen und Geräte zur Herstellung der verschiedenen Strohprodukte - der Geflechte und Strohhüte, der Flaschenhülsen und der Trinkhalme - an. Hier galt es zu beachten, dass bei der Aufstellung der Maschinen genug Platz für die zahlenmäßig oft großen Gruppen blieb - vor allem bei den praktischen Vorführungen an den Hutnähmaschinen und den Flaschenhülsen-Nähmaschinen, die regelmäßig zum Programm der Führungen gehören.
Das Konzept sah zunächst eine gewisse Beruhigung des sehr langen und schmalen Ausstellungsraumes vor, der ursprünglich unter anderem durch die Vielzahl an Objekten sehr unruhig wirkte. Durch Trennwände wurde der Raum in einzelne Themeneinheiten untergliedert, denen die Objekte und Texte zugeordnet wurden. Ein Teil der heutigen Strohhutproduktion für den Museumsshop wurde in den benachbarten Werkstattraum ausgelagert, um im Ausstellungsraum mehr Platz und Übersichtlichkeit zu schaffen. Historische Fotos in Großformaten an den Trennwänden und auf von der Decke hängenden Stoffbahnen sollten die einzelnen “Szenerien” atmosphärisch beleben.

Gegenwart und Zukunft

Am Ende des Rundgangs befindet sich unter der Überschrift “… auf dem Weg in die Zukunft” die Darstellung von Gegenwart und Zukunft der Strohverarbeitung. Sie beschäftigt sich mit der heutigen industriellen Nutzung von Stroh und anderen nachwachsenden Rohstoffen. Der Inhalt und die Themen in diesem Raum sind variabel gedacht, und es ist davon auszugehen, dass hier zukünftig immer wieder neue Objekte aufgestellt werden. Um diese Variabilität technisch zu ermöglichen und visuell zu verdeutlichen, wurden die Texttafeln hier auf beweglichen Ständern montiert. Darüber hinaus lassen sich die einzelnen Tafeln drehen. Auf den Rückseiten sieht sich der Besucher mit auf Spiegelfolie aufgebrachten Zitaten zum Thema Fortschritt konfrontiert. Ziel dieser Installationen ist es, den Besucher auf sich selbst und seinen Ideenreichtum als wesentliche Quelle für neue Produktideen zurückzuverweisen.

Texte

Eine wesentliche Neuerung in der Ausstellung sind die kombinierten Text- und Fototafeln, die der Graphiker Holger Kerkhoff aus Schüttorf gestaltet hat, sowie einzelne Objektbeschriftungen. Das Layout der Tafeln ist in seiner Grundanlage einheitlich, variiert jedoch in den Details je nach dem Ausstellungsthema. In den Ausstellungsnischen, in denen zweidimensionale Objekte überwiegen, treten die Tafeln durch kräftigere Farben deutlicher hervor. Der Einsatz von Farbe, Abbildungen und Hintergrundelementen ist hier stärker variiert. Bei der Darstellung der historischen Strohverarbeitung sind die Tafeln dagegen farblich zurückgenommen, um nicht in Konkurrenz zu den ausgestellten Objekten zu treten. Die Tafeln zu Gegenwart und Zukunft der Strohverarbeitung sind schließlich in der Gestaltung und Farbauswahl sachlicher gehalten, um darin den auf Technik ausgerichteten Texten zu entsprechen.

Museumsbetrieb

Seit 1996 öffnet das Museum sonnabends von 14 bis 18 Uhr. An den übrigen Wochentagen ist es für Gruppen nach vorheriger Anmeldung zugänglich. An Sonntagen bleibt es geschlossen. Gruppen gehören zu den wesentlichen Besuchern des Museums. Sie werden auf Wunsch in der Museumsdiele mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Durch dieses Angebot sowie durch den Verkauf selbst hergestellter Strohprodukte im Foyer des Museums finanziert das Museum seine laufenden Kosten. Bewirtung und Führungen, Organisations- und Planungsarbeit sowie die Herstellung von Verkaufsartikeln aus Stroh und die Arbeiten zur Instandhaltung des Gebäudes werden auf ehrenamtlicher Basis durchgeführt. Insgesamt 38 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer beteiligen sich heute an diesen Aufgaben.

Von etwa 800 Personen im Jahr 1996 steigerte sich die Zahl der Besucher kontinuierlich auf rund 10.000 im Jahre 2003. Die positive Resonanz lässt sich auch im Besucherbuch erkennen, wo sich die Besucher nicht nur in Wortspielen - “Wo man so viel über Stroh erfährt, bleibt niemand ‘strohdumm’!” - weiter mit dem Thema beschäftigen.

Perspektiven

Nach Fertigstellung der Räumlichkeiten und der Dauerausstellung möchte sich das Museum in Zukunft verstärkt mit Fragen der nachhaltigen Entwicklung und der Nutzung nachwach-sender Rohstoffe auseinandersetzen. Denkbar wäre etwa eine Vernetzung mit anderen regionalen Projekten und Partnern, für die das Museum mit seiner Museumsdiele als Treffpunkt und Veranstaltungsort - z.B. für Gesprächskreise, Vorträge, Diskussionen, Lesungen, Symposien oder Fortbildungen zu diesen Themen - fungieren könnte. Auch das große Außengelände ließe sich in diesem Zusammenhang nutzen. Der Sonderausstellungs-raum im Obergeschoß bietet darüber hinaus Platz für wechselnde Ausstellungen zu diesem Themenbereich.